Die Systemanalyse nach Huwiler (2020) ist eine Denkmethode,
welche vernetztes Denken fördert und eine logisch-rationale Herangehensweise an Frage- und Problemstellungen ermöglicht.
Das Ziel der Methode ist die Reduktion von Komplexität durch das Aufschlüsseln einer Fragestellung nach Ihren Bezugspunkten zu den Teilsystemen Politik, Recht, Gesellschaft, Wirtschaft, Technologie und Ökologie.
Die Methode ist inspiriert vom St. Galler-Managementmodell, welches
als Führungshilfsmittel in Unternehmungen dient.
Das Systemanalyse-Modell kann für Standortbestimmungen (Wo stehe
ich in den verschiedenen Systemen? Wo bestehen Abhängigkeiten?), für persönliche (Konsum-)Entscheidungen oder auch zum Durchdenken jeglicher Problemstellungen (wie z.B. auch Abstimmungsvorlagen) angewandt werden.
2019 war ein herausforderndes Jahr für mich. Es war voller Lernaufgaben und ich bewegte mich zwischen Unterforderung, Überforderung und dem perfekten Flow. Schlussendlich bin ich mit einem Herzensprojekt gescheitert. Durch die Aufarbeitung meines Scheiterns erkannte ich, wie komplex meine Herausforderung gewesen war. So viele Faktoren spielten eine Rolle und es war mir nicht möglich mein Projekt alleine zu bewerkstelligen. Hier wurde mir bewusst, wie wichtig ein Netzwerk kompetenter Personen ist, um eine Vision Wirklichkeit werden zu lassen.
Ich liess mein Projekt los und wendete mich meinen eigenen Denkprozessen zu. Wie konnte ich eine Herausforderung erkennen, die richtigen Fragen herausfinden und entsprechend die Menschen finden, die mir bei der Beantwortung der Fragen helfen würden?
Ich wollte eine Methode finden, die mir dabei half, ein geeignetes Netzwerk aufzubauen, um Herausforderungen im Sinne der Zukunftskompetenzen (4K - Kritisches Denken und Problemlösen, Kreativität, Kooperation und Kommunikation) anzugehen.
Im Dezember 2019 hatte ich schliesslich mitten in der Nacht eine Erleuchtung. Ich stand um 3 Uhr morgens vor meiner Whiteboard-Tafel und notierte meine Idee:
Die Methode sollte einfach verständlich und einfach anwendbar sein. Stell dir das Bild eines Adlers vor, der fliegt und seine Runden dreht und dabei auf die Erde herunterblickt. Was sieht er? Er sieht die Natur, Tiere, Menschen, Gebäude, Strassen. Blicken wir mit einem Fernglas auf die Erde, erkennen wir verschiedene Systeme (im Sinne von Niklas Luhmann's Systemtheorie*).
Wir Menschen leben in einem bestimmten Staat. Gemäss völkerrechtlicher Staatsdefinition gilt als Staat ein abgegrenztes Staatsgebiet, zu dem ein Staatsvolk und die Staatsgewalt(en) gehören. Jeder Staat hat ein bestimmtes politisches System (auch Regierungsform genannt), welches die Rechte und Pflichten des Staatsvolkes definiert. Diese Rechte und Pflichten sind üblicherweise in Gesetzen festgelegt. Jeder Staat verfügt also aufgrund des politischen Systems auch über ein rechtliches System (auch Rechtsordnung). Gemäss Luhmann erkennt man ein System erst in Abgrenzung zu einem anderen System. Hier wird das deutlich. Solange sich eine Gesetzesänderung noch im politischen Prozess befindet, gehört es noch nicht zur geltenden Rechtsordnung. Wird die Gesetzesänderung in Kraft gesetzt, ist sie fortan Teil der Rechtsordnung.
In jedem Staat gelten neben rechtlichen Regeln auch implizite gesellschaftliche Regeln, welche unsere Gesellschaft beeinflussen. Ich nenne dies das soziale System. Wir erkennen den Zusammenhang zum rechtlichen System, denn die gesellschaftlichen Sitten und Bräuche beeinflussen das Recht, genauso wie das Recht diese Sitten und Bräuche beeinflusst. Eindrücklich sehen wir das an der Entwicklung des Familienrechts. 2004 hat das Schweizer Stimmvolk der eingetragenen Partnerschaft zugestimmt. Diese musste aber aufgrund wesentlicher Unterschiede zur Ehe in einem separaten Gesetz geregelt werden. 2021 stimmt das Schweizer Stimmvolk der "Ehe für alle" zu. Unsere Einstellung als Gesellschaft ist liberaler und offener geworden. Unser soziales System verändert sich, was unsere Rechtsordnung verändert.
Jeder Staat lebt eine bestimmte Wirtschaftsordnung. Die Schweiz als Beispiel ist eine soziale Marktwirtschaft. Unsere Wirtschaftspolitik ist darauf ausgelegt und entsprechend werden die wirtschaftspolitischen Ziele definiert. Auch hier sehen wir klar, wie die Systeme einander beeinflussen.
Wie erfolgreich eine Volkswirtschaft ist, hängt heute wesentlich von ihrer Fähigkeit zu Innovation ab. Innovation ist ein wesentliches Thema des technologischen Systems. Welche Technologien und Techniken werden entwickelt und genutzt? Hier darf es nicht nur darum gehen, Dinge zu digitalisieren. Es geht darum, wirklich Nutzen für die Nutzenden zu stiften. Es braucht nicht den x-ten Online-Shop mit kostenloser Rücksendung. Wir benötigen Technologien, die das Leben nachhaltig verbessern.
Die Frage, welche Technologien unser Leben verbessern, führt uns unweigerlich zum ökologischen System. Unternehmen, welche Produkte und Dienstleistungen anbieten, müssen überlegen, ob die Produktion mit ökologischen Zielen (Nachhaltigkeit, Umweltschutz) vereinbar ist. Auch wir Konsumenten sind gefordert, uns beim Konsum dieselbe Frage zu stellen.
Wir sehen also, dass die sechs bestimmenden Systeme für unser Leben die Systeme Politik, Recht, Gesellschaft, Ökonomie, Technologie und Ökologie sind. Alle Systeme sind miteinander vernetzt. Jede Entscheidung innerhalb eines Systems beeinflusst die anderen Systeme.
* Niklas Luhmann (1927 - 1998) war ein deutscher Sozialtheoretiker und analysierte die Funktionsweise von Gesellschaften. Dazu entwickelte er seine "Systemtheorie", nach der eine Gesellschaft aus verschiedenen sozialen Systemen wie Recht, Bildung, Wirtschaft, Politik etc. besteht. Jedes dieser Systeme verstehe die Gesellschaft aus der eigenen Sicht, z.B. betrachte die Wirtschaft alles unter dem Aspekt des Geldes.
In meinen 17 Jahren als Lernprozessbegleiterin bin ich immer wieder Vereinfachungen von komplexen Sachverhalten begegnet, die bei ihrer Anwendung zu unbefriedigenden Resultaten führten. Gerade vereinfachende Modelle in den Rechtswissenschaften können bei realen Fällen zu falschen Einschätzungen führen. Rechtliche reale Sachverhalte sind kompliziert und häufig auch komplex. Ich muss fähig sein, die verschiedenen Gesichtspunkte der beteiligten Personen einzunehmen, um eine für alle Parteien akzeptable Lösung zu finden. Die aussergerichtliche Streitbeilegung zeigt hier ihr Potenzial: Mediatoren vermitteln zwischen Streitparteien, indem sie sich in die jeweilige Position hineinversetzen und der Gegenpartei deren Blickwinkel erläutern. Hier spielen alle Systeme eine Rolle: Vielleicht verfolgt eine Partei ein bestimmtes politisches Ziel und würde unglaubwürdig erscheinen, käme sie der Gegenpartei entgegen. Eine Partei muss sich an ein bestimmtes Gesetz halten (z.B. Bauvorschriften), von dem die andere Partei keine Kenntnis hat. Möglicherweise dulden andere Kunden einer Partei ein bestimmtes Verhalten nicht, weshalb es schwierig ist die Wünsche der Gegenpartei zu erfüllen. Oder es macht wirtschaftlich keinen Sinn und man muss eine ganz andere Lösung finden. Im Idealfall finden wir mit der Analyse der Bedürfnisse, dem Aufdecken von Missverständnissen und dem Einnehmen verschiedener Blickwinkel einen Konsens oder zumindest einen Kompromiss.
Wir sollten im Bildungskontext Komplexität nicht vereinfachen. Wir brauchen vielmehr (Denk-)Methoden, die uns helfen, die Komplexität zu bewältigen. So eine Methode soll die Systemanalyse sein, die ich hier vorstelle.
Nimm ein A4-Papier quer. Stelle dein Thema in die Mitte. Rundherum schreibst du die sechs Systeme auf. Überlege dir nun, welchen Bezug dein Thema zum politischen, zum rechtlichen, zum sozialen, wirtschaftlichen, technologischen und ökologischen System hat.
Hier ein Beispiel aus meinem Lernraum vom September 2020, kurz vor der Abstimmung über den Vaterschaftsurlaub:
Ein anderes schönes Beispiel hat eine IDPA-Gruppe erarbeitet. Sie wollten sich mit dem Thema "Deep Fakes" beschäftigen und grenzten das Thema anhand der Systemanalyse ein. Die Methode hat der Gruppe in wenigen Minuten Klarheit verschafft, in dem wir die Fragen notierten, die sich in Bezug auf die verschiedenen Systeme stellen:
So wurde der Gruppe schnell klar, dass sie sich eher nicht mit der rechtlichen Beurteilung von Deep Fakes beschäftigen wollen, sondern prüfen wollen, welche Technik nötig ist, um ein Deep Fake zu erstellen. Anhand der identifizierten Fragen und ihrer Zuordnung zu den sechs Systemen wurden auch Fragen klar, die einen Bezug zu mehreren Systemen haben, wie z.B. die Frage nach dem Bewusstsein für Deep Fakes in der Gesellschaft und der rechtlichen Regelung (Persönlichkeitsschutz, Geistiges Eigentum). Ist den Menschen klar, dass die Persönlichkeitsrechte der von Deep Fake betroffenen Person verletzt worden sind? Sind ihnen die rechtlichen Auswirkungen von Deep Fakes bewusst (z.B. Videobeweis im Strafrecht)? Sind die Menschen genügend über technische Möglichkeiten aufgeklärt?
Diese Anwendung der Methode hat den Lernenden enorm geholfen, sich schnell in diesem komplexen Thema zurecht zu finden und durch die Struktur einen Leitfaden für die Erstellung ihrer Arbeit zu formulieren.
Die Systemanalyse eignet sich auch, um ein neues Thema für die Behandlung im Lernraum vorzubereiten. Ich kann mit den Lernenden gemeinsam die Fragen erarbeiten (siehe Bild) und diese in Gruppen erarbeiten lassen. Dies entspricht meiner Vorstellung des forschenden Lernens.
Innerhalb weniger Minuten sind die Grundfragen des Themas eruiert. Im Beispiel oben geht es um das Thema Konsumkredit und das Konsumkreditgesetz der Schweiz.
Stellst du dich selbst in die Mitte, kannst du deine Rolle in den jeweiligen Systemen identifizieren:
Wir erkennen, dass es sich bei den sechs Systemen um jene Systeme handelt, zu denen wir als Staatsbürger/in in einer Abhängigkeit stehen. Ich kann mich innerhalb eines Staates diesen Systemen kaum entziehen. Dies zu verstehen, ist meiner Meinung nach die Grundvoraussetzung, um Systeme neu zu denken und zu gestalten. Ändere ich ein System, verändert das auch die anderen Systeme. Die Systeme sind miteinander vernetzt. Ändere ich meine Staatsbürgerschaft, ändern sich meine Rechte und Pflichten. Auch ich fange an mich zu verändern, weil ich mich an die neuen Systeme anpasse. Die Gesellschaft beeinflusst mich und auch ich beeinflusse meine Mitmenschen.
Die Systemanalyse zeigt, wie jedes System im Fluss ist. Es gibt keine Konstante. "Nichts ist so beständig wie der Wandel", wie bereits Heraklit von Ephesus, (535-475 v. Chr.) festhielt.
Die Systemanalyse beschreibe ich als eine Denkmethode. Eine Denkmethode ist gemäss Duden eine Methode, eine Art und Weise zu denken oder gedanklich vorzugehen. Wende ich die Systemanalyse an, denke ich system-analytisch. Bei Gesprächen gehe ich in meinem Kopf die Systemanalyse durch: Was meint mein Gegenüber genau? Aus welchem Blickwinkel spricht mein Gegenüber?
Um hier schneller Klarheit zu erhalten, macht es durchaus Sinn, nach dem Beruf des Gesprächspartners zu fragen. Ein Mediziner wird aus einem anderen Blickwinkel auf die Biotechnologie schauen als ein Informatiker. Auch das Alter, die Herkunft und eventuell sogar das Geschlecht werden eine Rolle dabei spielen, wie wir zu einer Fragestellung stehen. Indem ich die Systemanalyse anwende, kann ich meinem Gegenüber entsprechende Fragen stellen und das Gespräch gewinnt an Tiefe. Nicht selten höre ich dann "So habe ich das noch nie gesehen." oder "Diese Frage habe ich mir noch nie gestellt."
Wissenschaftler/innen unterschiedlicher Disziplinen wenden häufig unterschiedliche Denkmethoden an. Das Verständnis für verschiedene Denkprozesse vereinfacht die Zusammenarbeit interdisziplinärer Teams. Unter Umständen macht es sogar Sinn eine gemeinsame Denkmethode zu etablieren, um effektiver und effizienter zusammenarbeiten zu können. In Unternehmen ist es sinnvoll, eine gemeinsame Problemlösungsstrategie zu entwickeln. Durch das Systemanalyse-Modell können die verschiedenen Perspektiven aufgedeckt werden. Auch möglich ist, dass wir ganz bewusst interdisziplinär diskutieren: Ein Vertreter jedes Systems nimmt genau dessen Perspektive ein und argumentiert entsprechend. Im Gespräch wägen wir ab, welche Argumente höher zu gewichten sind und können zu einer sinnvollen Entscheidung gelangen bzw. ein Konsens oder mind. einen Kompromiss finden.
Wir alle denken auf eine bestimmte Weise. Ist dir deine Denkweise bewusst? Wie gehst du Herausforderungen an?
Ich freue mich, wenn sich meine Methode weiterentwickelt, wenn sie kritisch betrachtet wird und dadurch wachsen kann. Wenn du mir ein Feedback geben magst, bitte melde dich unter info@miriamhuwiler.ch. Danke!
Mehr zur Anwendung der Systemanalyse mit Lernenden und Studierenden HIER.