Ausgangspunkt jedes wirtschaftlichen Handelns sind die Bedürfnisse der Menschen. Immer wieder begegne ich jungen Menschen, die für die grossen Herausforderungen unserer Zeit "das System" verantwortlich machen. "Wir müssen das System ändern", höre ich dann oft. Ich frage dann jeweils zurück, welches System sie denn meinen. In der Regel sind die Antworten dann "der Staat" oder "die Wirtschaft". Dann frage ich weiter, wer oder was denn der Staat oder die Wirtschaft sei. Mit etwas Nachdenken merken wir dann, das sind ja wir selber. Ohne Menschen gibt es keinen Staat, ohne Menschen gibt es keine Wirtschaft. Diese "Systeme" sind also soziale Systeme, menschengemacht.
Definieren wir die beiden Begriffe. Ein Staat ist gemäss völkerrechtlicher Definition und der Drei-Elemente-Regel ein Staatsgebiet mit einem Staatsvolk und einer Staatsgewalt. In der Schweiz gibt es drei Staatsgewalten: Die Legislative, die Exekutive und die Judikative. In den Parlamenten, den Regierungen und in den Gerichten agieren Menschen auf den Ebenen Bund, Kanton und Gemeinde. Die Schweiz ist ein föderalistischer Bundesstaat bestehend aus Menschen.
Die Wirtschaft können wir im einfachen Wirtschaftskreislauf darstellen:
Zwischen den Haushalten und den Unternehmungen findet ein Austausch von Gütern und Geld statt. Arbeitnehmende stellen einem Unternehmen ihre Arbeitskraft zur Verfügung und erhalten dafür einen Lohn. Die Unternehmung liefert seinen Kundinnen und Kunden Güter des täglichen Gebrauchs und erhält dafür den Kaufpreis. "Wirtschaft" ist also der Austausch (Handel) von Gütern und Geld unter Menschen.
Will eine Unternehmung erfolgreich sein, also ihre Güter und Dienstleistungen gewinnbringend verkaufen, müssen die Menschen die Güter und Dienstleistungen nachfragen. Nachfrage entsteht aus einem Bedarf, der auf eine ausreichende Kaufkraft trifft. Ein Beispiel zeigt dies auf: Ich habe Durst (Bedürfnis), weshalb ich überlege, ob ich mit den Fr. 3.-, die ich in meinem Portemonnaie finde (Kaufkraft), am Automaten am Bahnhof eine Flasche Apfelschorle kaufen soll (Bedarf). Wenn ich mich tatsächlich für den Kauf entscheide (anstatt an einem Brunnen meine Glasflasche mit Hahnenwasser aufzufüllen), entsteht die Nachfrage nach Apfelschorle. Ohne Bedürfnisse keine Nachfrage, ohne Nachfrage kein Angebot.
Wenn unsere Bedürfnisse den Auslöser unserer Konsumentscheidungen darstellen, muss das bedeuten, dass wir mit einer Veränderungen unserer Bedürfnisse unsere Konsumentscheidungen und damit die Wirtschaft beeinflussen können.
Angesichts der grossen Herausforderungen unserer Zeit, wie Klimawandel, Verlust von Biodiversität, Armut und Hunger, Bevölkerungswachstum und bewaffneter Konflikte, fühle ich mich häufig ohnmächtig. Ich habe das Gefühl in meiner "Wohlfühl-Bubble" in einem sicheren Staat wie der Schweiz mit einem hohen Wohlstand nichts ausrichten zu können. Aber das stimmt nicht: Ich muss mir bewusst werden, dass meine Bedürfnisse und wie ich diese befriedige, einen Einfluss darauf haben, welche Angebote entstehen (ein Beispiel dazu HIER).
Damit meine Lernenden und Studierenden erkennen, dass sie zu Gestaltenden werden können, habe ich das metazyklische Reflexionsmodell entwickelt.
Wir fragen uns zuerst, welche Bedürfnisse wir haben. "Was brauche ich?" und zwar in Bezug auf jedes existenzrelevante System. Vielleicht habe ich das Bedürfnis mich in der Politik einzubringen und mitzuwirken. Daraus entsteht der Wert der Mitbestimmung, ein wichtiger Wert in der halb-direkten Demokratie. Meine Vision könnte dann sein, dass mehr Menschen mitwirken können. Es ginge da um die Frage, wie die direkte Demokratie ausgeweitet werden könnte (z.B. mit einer formalen Ausweitung durch das Ausländerstimmrecht oder Stimmrecht ab 16 Jahren; auch eine inhaltliche Ausweitung wäre denkbar, so dass die Stimmbürger/innen zwingend über Gesetzesänderungen abstimmen und nicht nur dann, wenn ein fakultatives Referendum ergriffen wird). Aus der Vision kann ich meine nächsten Schritte, die Mission, definieren. Wenn ich mich für eine Ausweitung der direkten Demokratie engagieren will, überlege ich mir z.B. einer Partei beizutreten. Auf meinem Weg hin zur Befriedigung meines Bedürfnisses werde ich Menschen kennenlernen, die meine Vision teilen. Von ihnen kann ich mich inspirieren und mir helfen lassen.
Diese Überlegungen stelle ich nun für jedes System an. Ich sollte mir dabei Zeit lassen und mir immer wieder die Frage stellen, ob meine Antworten für mich noch richtig sind. Deshalb nenne ich das Modell "metazyklisch". Ich begebe mich auf die Metaebene und denke über meine Bedürfnisse nach und was diese für mein Verhalten bedeuten. Einerseits mache ich dies "im Kreis herum", also für jedes definierte System und gleichzeitig kann ich das in wiederholenden Zyklen immer wieder machen. Der Kreis und die Pfeile ergeben von oben betrachtet eine Spirale. Ich tauche immer wieder in die Spirale von Fragen ein und mache mir bewusst, wie ich Entscheidungen fälle und wie meine Entscheidungen mein Handeln beeinflussen.
Wenn mein Wert "Nachhaltigkeit" ist, dann muss ich sämtliche Ressourcen dahingehend nutzen, dass die natürliche Regenerationsfähigkeit gewährleistet wird. Dies hat Auswirkungen darauf, wie ich mein Leben gestalte. Ob ich alleinstehend in einem grossen Einfamilienhaus lebe, einen benzinbetriebenen Sportwagen fahre, geschäftlich um die halbe Erdkugel fliege oder eben nicht.
Es geht mir bei der Anwendung des Reflexionsmodells nicht um richtige oder falsche Entscheidungen. Es geht darum, dass ich mir bewusst werde, welche Entscheidungen ich fälle und warum. So werde ich zu einer verantwortungsvollen und reflektierten Bürgerin, Vertragspartnerin, Gesellschaftsmitglied, Konsumentin und Nutzerin. Das macht mich zu einem selbstverantwortlichen und selbstbewussten Menschen. Ich werde mir bewusst, dass ich meine Umwelt mitgestalte. Ich bin nicht ohnmächtig höheren (System-) Mächten ausgeliefert. Ich selbst gestalte meine Wirklichkeit.
Das metazyklische Reflexionsmodell basiert auf der konstruktivistischen Erkenntnistheorie. Diese impliziert, dass die Welt nicht als etwas Gegebenes gesehen werden kann, sondern als Ergebnis von kommunikativen Aushandlungsprozessen zu verstehen ist. Was als wirklich und relevant gelten soll, wird fortlaufend kommunikativ ausgehandelt. Es gibt also nicht die eine wahre Realität. Was wirklich ist, ist ein Ergebnis unserer Denk- und Kommunikationsprozesse.
Tauschen wir uns in Lernräumen über unsere Bedürfnisse, Werte, Visionen und Missionen aus, entsteht eine ganz neue Sichtweise auf die Welt und die eigene Gestaltungskraft. In diesem Sinne kann das Reflexionsmodell Potenzial entfaltend wirken. Beim gemeinsamen Durcharbeiten der Fragen werden die Zukunftskompetenzen, die 4K - Kritisches Denken und Problemlösen, Kreativität, Kooperation und Kommunikation -, gefordert und gefördert.
M I r i a m H U w i l e r
Kreative Gestalterin, Musikerin
Dipl. Berufsfachschullehrerin BM W&R
MLaw / MAS-A&PE