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#02 Konditionierte Schülerinnen und Schüler entkonditionieren – Ein Erfahrungsbericht

Es war schon letztes Jahr im August so, nur hatte ich es vergessen. Nun habe ich wieder eine berufsbegleitende Berufsmatura-Klasse vor mir und erlebe es wieder. Ich erinnere mich und deshalb bin ich zuversichtlich.

Meine Lernkultur beinhaltet freies Denken. Wir beschäftigen uns mit aktuellen Themen aus Wirtschaft und Recht und stellen diese in einen historischen Kontext. Wir beleuchten in der Vergangenheit entstandene Modelle und überprüfen ihre Tauglichkeit für die heutige, komplexe Welt. Mit meinen Studierenden hinterfrage ich kritisch Lernzielvorgaben und Lehrinhalte in Bezug auf ihre Sinnhaftigkeit, Logik und Anwendbarkeit in Privatleben und Beruf.

 

Aber nun ist da diese Klasse von 23 einigermassen motivierten Studierenden. Nach 3 Wochen kommt die erste schriftliche Prüfung näher. Und da ist sie! Die Frage! «Was genau muss ich können?» Und eine weitere: «Haben Sie Lösungen zu diesen Fragen im Skript?»

Ich frage geradeheraus: «Haben Sie die Fragen gelesen? Da steht «Wo stehen Sie? Bilden Sie sich eine eigene Meinung und begründen Sie»! Herrgottgopferdellinomol. Als nächstes gehen diese Individuen an die Hochschule und sie fragen mich tatsächlich nach «Lösungen» für Ihre eigene Meinung! Ich weiss nicht, ob ich weinen oder laut lachen soll.

Dann erinnere ich mich. Ah ja, das war ja letztes Jahr auch schon so. Was hatte ich dann gemacht?

 

Erstens hatte ich mir selbst klar gemacht, dass diese einigermassen motivierten Studierenden seit rund 15 Jahren in einem Schulsystem unterwegs sind, das sie darauf konditioniert hat, Stoffinhalte auswendig zu lernen. Diese Stoffinhalte waren in SMART-formulierten Feinlernzielen heruntergebrochen auf einzelne kleine (Auswendig-)Lernschritte. Sie hatten also wahrscheinlich häufig eine Lernzielliste, die sie für die Prüfungsvorbereitung abarbeiten konnten, die Inhalte aus einem Lehrbuch auswendig lernten und an der Prüfung wieder ausspuckten.

Und nun war da ich und stand vor Ihnen und erwartete, dass sie genau das nicht mehr tun sollten! Sie sollten nicht auswendig lernen, sondern doch bitte um Himmels willen selber anfangen zu denken. Sie sollten sich entspannen, auf ihr Können vertrauen und an der Prüfung denken und ihre Denke verschriftlichen. Zu all diesem Unsinn würde ich ihnen dann dafür auch noch eine Note geben, die sie für ihr Denken belohnen sollte und sie nicht deprimiert und demotiviert. Wie soll das denn funktionieren??? Diese Situation löst bei meinen Klassen regelmässig Panik aus.

 

Liebe Leserin, lieber Leser

Dies ist keine Kritik an uns Lehrpersonen. Ich habe genau so unterrichtet. Gut 12 Jahre lang. Ich habe auch heute noch das Gefühl, damit in der Grundbildung nicht so schlecht gefahren zu sein.

Als ich aber anfing Berufsmaturandinnen und -maturanden zu unterrichten, habe ich angefangen mich mehr mit den überfachlichen Kompetenzen, wie sie der Rahmenlehrplan für die Berufsmaturität beschreibt, zu beschäftigen. Für mein Fach sieht der RLP-BM folgendes vor:

 

«7.7.3 Überfachliche Kompetenzen

Die Lernenden werden in den folgenden überfachlichen Kompetenzen besonders gefördert:

  • Reflexive Fähigkeiten: das Tagesgeschehen in Bezug auf einen verantwortungsvollen Umgang mit beschränkten Ressourcen und auf die Einhaltung anerkannter ethischer Normen reflektieren; Zusammenhänge zwischen wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Gegebenheiten und deren Veränderungen beurteilen.
  • Nachhaltigkeitsorientiertes Denken: sich mit Fragen der nachhaltigen Entwicklung auseinandersetzen und dabei gemeinsam Zukunftsentwürfe skizzieren, welche helfen, sich, seinen Mitmenschen und der Umwelt Sorge zu tragen.
  • Interessen: das wirtschaftliche, rechtliche, ökologische und politische Geschehen mit Aufmerksamkeit verfolgen.
  • Umgang mit Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT-Kompetenzen): wirtschaftliche und rechtliche Problemstellungen mit Hilfe von Medien allein und im Team analysieren; Lösungsvarianten entwickeln, bewerten und einer Entscheidung zuführen.»

 

Also nicht nur weil ich es will, sondern weil es unser RLP-BM (mehr dazu HIER) so vorsieht, ist es unbedingt notwendig, die Studierenden zu «ent-konditionieren»!

Wie mache ich das? Es ist ein Prozess. Es ist wie das (Um-)Erziehen von Kindern. Meine sind 1 und 5 Jahre alt. Wer Kinder hat, weiss, wie schwierig es ist, ein Kind von einem bereits angewöhnten Verhalten wegzubringen. Meiner Erfahrung nach funktioniert es nur mit Vertrauen, Aushalten und Loslassen.

 

1. Vertrauen

Die Studierenden müssen wieder erfahren, dass ihre Meinung zählt. Ich begegne ihnen auf Augenhöhe. Ich höre zu. Ich respektiere ihre persönliche Meinung und stelle (kritische) Fragen, die zum Perspektivenwechsel anregen. Ich lasse ihnen Zeit (Zeit ist ein wichtiger Faktor, dazu mehr in einem anderen Blogbeitrag). Ich begegne ihnen mit Respekt. Persönliche Gespräche behandle ich vertrauensvoll. Ich erwarte aber auch Vertrauen von ihnen mir gegenüber. Vertrauen, dass ich sie gerecht und nach bestem Wissen und Gewissen beurteile. Vertrauen, dass auch ich einen Standpunkt vertrete, den ich jederzeit begründen kann, aber nicht immer muss.

 

2. Aushalten

Entkonditionierung heisst sich auf etwas Neues einzulassen. Neu ist häufig befremdlich, man muss den Sprung ins kalte Wasser wagen. Es gibt Studierende, die das lieben. Sie sind furchtlos und spüren sehr schnell, welche Vorteile Neuerungen für sie haben. Es gibt aber auch solche, die Angst haben – vor Ungerechtigkeit, Überfordert-Sein -, das ist okay. Neue Lernprozesswege einzuschlagen kann auf Widerstand stossen. Diesen Widerstand gilt es auszuhalten. Das ist nicht leicht. Aber wir müssen ihn aushalten!

Um konsequent zu bleiben, ist mir persönlich wichtig, dass ich eine klare Vision meiner Lernprozessgestaltung habe. Was will ich, das die Studierenden aus der Zeit mit mir mitnehmen? Ich will, dass sie frei und selbständig denken können. Ich will, dass sie nicht manipuliert werden können, dass sie verschiedene Positionen verorten und für sich gewichten können. Ich will, dass sie selbständige, unabhängige, freie, demokratische Wesen werden. Alles, was auf dem Weg dahin nötig ist, halte ich aus.

 

3. Loslassen

Die Studierenden müssen sich verantwortlich fühlen für ihr Denken und Handeln. Die Verantwortung für ihre Lernprozesse liegt bei ihnen, nicht bei mir. Dies muss ich ihnen konsequent vorleben.

Ich selbst muss loslassen. Wir Lehrpersonen neigen dazu, die Kontrolle über alles haben zu wollen: Die Zeit, die Lernschritte, die Inhalte, die Sozialformen und und und.

Beim Loslassen hilft mir das Konzept der «Freiarbeit». Ich mache den Studierenden Angebote und sie wählen selbst, welches Angebot sie nutzen, ob sie alleine, zu Zweit oder in kleinen Gruppen arbeiten. Ich begleite sie als Lerncoach, stehe zur Verfügung für Fragen, klinke mich auch mal in eine Diskussion ein, um einen Perspektivenwechsel anzuregen oder einfach um zu moderieren. Ich stelle Material bereit. «Loslassen» ist der Kontrollverlust über die vermeintlichen Lernprozesse, von denen ich mir lange einbildete, ich könne sie steuern. Ich kann sie nur anregen, lernen als inneren Prozess müssen die Studierenden selbst.

 

Habe ich Vertrauen aufgebaut, ausgehalten und losgelassen, werden wir gemeinsam produktiv. Wenn ich Glück habe, dauert das Entkonditionieren nur wenige Wochen. Habe ich Pech, dauert es mehrere Monate. Lohnen tut es sich aber auf jeden Fall! Für beide Seiten.

Mehr zum «Gemeinsam produktiv werden» ganz bald wieder hier auf meinem Blog!

Ich freue mich auf deinen Kommentar, deine Anregungen und deine konstruktive Kritik.

Heb dier Sorg.

Miriam

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