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Wie willst du lernen?

Was passiert, wenn sich sechs Lernende und zwei Lernprozessbegleitende in entspannter Atmosphäre ausserhalb der Schule zum freiwilligen gemeinsamen Brainstorming zur Frage "Wie willst du lernen?" treffen? Meine Erkenntnisse präsentiere ich dir in diesem Beitrag.

Ich war ein wenig aufgeregt, denn es ist in meiner 17-jährigen Lehrtätigkeit das erste Mal, dass ich eine Gruppe Lernende zu mir nach Hause einlade. Ich hatte bisher immer eine professionelle Distanz gewahrt, die, wie ich mir einbildete, zu meinem Berufsbild gehöre. Das wird nicht der einzige Glaubenssatz bleiben, den ich an diesem Abend über Board werfe.

 

Die ersten Lernenden trafen ein und die Stimmung war sofort sehr positiv, aufgeschlossen und motiviert. Wir warteten gemeinsam auf dem Balkon auf die Verspäteten, da der Feierabendverkehr die Anreise verzögerte. Kaum waren alle da, versammelten sich alle bei mir im Wohnzimmer um eine Papierrolle herum, die sich am Ende des Abends über drei Meter mit Ideen füllte. Nach einem gemeinsamen Pizzaessen setzten sich die Lernenden mit einem neuen Papier an eine Instagram-Strategie für wirtschaftverstehen.ch.

 

Beeindruckende Motivation

Mein Ehemann nahm mich nach einer Weile zur Seite und meinte, es sei beeindruckend, welche Motivation die Lernenden zeigten. "Die sind ja voll dabei!" Nicht ohne Stolz antwortete ich, dass es häufig auch in der Schule so sei. Warum? Hier sind meine Erkenntnisse:

 

1. Eine vertrauensvolle Beziehung ist die Basis für gelingendes Lernen.

Die Lernenden müssen mir vertrauen können. Sie müssen Vertrauen haben, dass sie sich selbst sein dürfen und so angenommen werden. Sie müssen darauf vertrauen können, dass sie über alles sprechen dürfen, was sie beschäftigt, ohne dafür (vor-)verurteilt zu werden. Sie müssen Vertrauen haben, dass ich sie fair behandle und ich mit mir anvertrauten Informationen vertraulich umgehe.

 

2. Professionelle Distanz wird überbewertet.

Auch ich als Lernprozessbegleiterin vertraue meinen Lernenden. Ich teile - wohlüberlegt natürlich - meine Gedanken, meine offenen Fragen und ein Teil meines Lebens mit ihnen. Ich verhalte mich als Vorbild. Dafür muss ich wissen, wer ich ich bin und wofür ich eintrete. Junge Menschen haben ein sensibles Gespür für Authentizität. Ich spiele keine Rolle, ich lebe meine verschiedenen Rollen (Lernprozessbegleiterin, Ehefrau, Mami, Musikerin, Tochter u.a.) mit allem, was ich bin und kann. 

 

3. Perfektionismus hilft nicht. 

Die Lernenden erwarten keine perfekten Lehrpersonen. Sie erwarten offene und authentische Lehrpersonen. Wenn ein Fehler passiert, sollte auch eine Lehrperson die Grösse haben, sich den Fehler einzugestehen und sich bei Lernenden zu entschuldigen. Fehler sind Einladungen zum Lernen. Auch hier haben wir eine Vorbildfunktion. Es gilt achtsam mit sich selbst zu sein und Nutzen und Kosten abzuwägen: Lieber an der Beziehung arbeiten und Lösungen mit den Lernenden gemeinsam aushandeln, anstatt perfekte Hochglanz-Unterlagen bereitstellen.

 

4. "Du" verändert alles.

Wir duzen uns. Die Anrede mit "Du" verändert die Hierarchie augenblicklich. Ich steige von meinem erhöhten Sockel als Autoritätsperson und steige ins gemeinsame Lernen, ins gemeinsame Erforschen mit ein. Ich bin in einigen Themen Expertin, manchmal übernehme ich die Moderation, führe mit neuen Fragen, damit die Gruppe im Flow bleiben kann. Und: Ich bestelle Pizza und mache Café Latte für alle.

 

5. Wir erleben die 4K.

Im Rückblick erkenne ich, dass wir den ganzen Abend die 4K gelebt haben: Wir haben miteinander kooperiert. Es gab keine vorgeschriebene Rollenverteilung, weil sie in dieser Achtergruppe nicht nötig war. Ab und zu übernahmen wir Lehrpersonen die Moderation und brachten neue Fragen ein. Genauso gab es Momente, in denen einzelne Lernende die Führung übernahmen und die Gruppe sogar eigenständig "Zusatzaufgaben" (Instagram-Strategie) übernahm. 

Wir haben miteinander kommuniziert. Wir haben miteinander diskutiert und einander aufmerksam zugehört. Das hat mich sehr beeindruckt: Jeder konnte ausreden, wurde nicht unterbrochen, immer jemand hat automatisch protokolliert. 

Wir haben kritisch gedacht und ein Problem gelöst. Ich habe die Lernenden eingeladen, weil ich mir unsicher war, wie wir das Projekt wirtschaftverstehen.ch weiterentwickeln sollten. Ich wollte wissen, wie die Lernenden lernen wollen und welche Bedeutung für sie verschiedene digitale Kanäle haben. Durch die kritische und beeindruckend reflexive Haltung der Lernenden ist mir klar geworden, wohin die Reise gehen kann.

Wir waren kreativ. Die Resultate des Abends waren für mich am nächsten Morgen zwar bruchstückhaft. Wir haben keine schlüssige Strategie für die Weiterentwicklung von wirtschaftverstehen.ch formuliert. Aber: Durch die vielen Inputs hat sich in mir das Bild zusammengefügt und ich habe bereits gestern mit der Umsetzung und der Umgestaltung der Webseite begonnen. 

 

6. 4K im Schulzimmer, aber auch an anderen Lernorten.

Mir wird einmal mehr bestätigt, wie inspirierend das Lernen in anderen Umgebungen ist. Leider hat die Pandemie das Lernen an anderen Lernorten teilweise verunmöglicht. Wir mussten auf Gerichtsbesuche verzichten, können aktuell das Polizeimuseum nicht besuchen, eine Weile waren Ausflüge und Treffen ausserhalb der Schule verboten. Wenn immer möglich nutze ich die Infrastruktur der Schule und der näheren Umgebung aus. Hier dürfen wir mutig sein! Die digitalen Lernräume können von überall besucht werden, so dass wir uns physisch bewegen können, ohne auf etwas verzichten zu müssen.

 

7. Die Lernenden wollen das Leben lernen.

Spannend waren die Inputs zu Themen, die für die Lernenden relevant sind. Hier wurde mir einmal mehr bewusst, dass es Themen gibt, die für die Lernenden aus stichhaltigen Gründen wichtig sind, die wir Lehrpersonen für weniger relevant halten oder sie einfach nicht beachten, weil sie nicht im Lehrplan stehen. Die Lernenden wollen für ihr Leben lernen. Sie wollen das Leben in der Gesellschaft verstehen. Sie wollen Verträge verstehen, Versicherungen, sie wollen vorsorgen und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen. 

 

8. "Wir brauchen Lehrer!"

Mit Vehemenz betonte ein Lernender, wie wichtig Lehrer für sie seien. Menschen, die ihnen ausserhalb der Familie und des Freundeskreises zuhörten und Inputs liefern, sie zum Denken einladen und inspirieren. Das hat mich sehr berührt und auch unglaublich gefreut zu hören. Die anderen haben zugestimmt, aber auch von sehr unterschiedlichen Lernbiografien erzählt. Es gäbe eben diese und jene Lehrpersonen: Die unterstützenden und die, die irgendwie nur ihre Zeit absässen. Die unterstützenden scheinen erfreulicherweise in der Mehrzahl zu sein. Eine Lernende hat es geschafft, aus der Sek C ins Gymnasium zu kommen. Ohne mitfühlende Lehrpersonen, die an sie glaubten und sie bestärkten, wäre das nicht möglich gewesen. 

 

Die Lernenden erwarten nicht, dass eine Lehrperson alles weiss. Sie schätzen den Forschergeist, miteinander Dinge herausfinden zu können,  gemeinsam auf dem Weg zu sein. Sie brauchen Begleitung im Zusammenfügen von Informationen. Kleine Theorie-Schnipsel sind im Internet überall verfügbar. Diese selber zusammenzusetzen und Anwendungskompetenz zu entwickeln, fällt schwer. Hier sehen die Lernenden die Rolle der Lernprozessbegleitenden: Sie darin zu unterstützen, sich im Wirrwarr von Informationen zurecht zu finden, um sich ein Bild von der Welt zu machen, in der sie sich bewegen. 

 

Mein Fazit

Es war ein bewegender Abend, der bei mir noch lange nachhallen wird. Echte Begegnung im realen Leben, richtige Gespräche, sich in die Augen sehen, miteinander denken und diskutieren - es ist ein Geschenk. Es ist das, was ich tun will und wofür mein Herz schlägt. Deshalb wird es so schnell keinen wirtschaftverstehen.ch-Instagram-Kanal geben. Für mich ist eindeutig klar geworden: Ich will mich um (Lern-) Begegnungen kümmern und nicht nur Content zur Verfügung stellen. Selber lernen, mit anderen lernen, mit meinen Lernenden lernen. Wie wundervoll!

 

Ich danke allen von Herzen für ihr Dabeisein. Ihr seid grossartig und es ist mir eine Ehre euch eine Weile begleiten zu dürfen. 

Eure Miriam

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