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#12 Eine Vision für einen erlebbaren Lernraum

Die Schule kämpft mit dem Problem, dass alle hin müssen, aber niemand eigentlich dort hin will. Wo wollen wir denn hin? Wo und womit verbringen wir gerne Zeit? 

Mein 5-jähriger Sohn besucht morgens den obligatorischen Kindergarten. Wenn er am Mittag nach Hause kommt, wendet er sich seinen eigenen Lernprojekten zu. Aktuell beschäftigt er sich mit Geografie. Mit Hilfe des digitalen Tools “Stack the states” und “Stack the countries”, eine Gameapp, bei der Punkte gesammelt werden kann, wenn man Fragen zu Ländern richtig beantwortet. Als Belohnung erhält man eine Grafik in Form eines Landes, die man anschliessend auf einer Weltkarte platziert. Umso mehr “Länder” man gesammelt hat, desto anspruchsvoller wird das Puzzle. Unterdessen kann mein Sohn sämtliche Kontinente benennen, Staaten den Kontinenten zuordnen und die jeweiligen Puzzles (also die korrekte Platzierung von Ländern auf der Weltkarte) für Europa, Nord- und Südamerika lösen. Das Game ist in Englisch, in einer Version werden die Fragen von einer virtuellen Stimme vorgelesen, also lernt er noch ganz nebenbei eine Fremdsprache.

Um zu verifizieren, dass mein Sohn nicht übermässig begabt ist, sondern jedes Kind auf diese Art lernen kann, beobachte ich seinen besten Freund, der das Spiel nun auch seit einer Weile spielt. Auch seine Lernfortschritte sind rasant und faszinierend. 

(Dabei bin ich doch eine Rabenmutter. Mein Sohn hat von meinem Ehemann und mir mit 2 Jahren ein eigenes Tablet (ein einfaches Samsung-Gerät, kein spezielles Kinder-Tablet!) erhalten. Dabei empfiehlt die WHO Kinder bis 3 Jahren von jeder Art von Bildschirmen fernzuhalten. Aber das nur in Klammern.) 

 

Kommen wir auf die Ausgangsfrage zurück: Wo und womit verbringen wir gerne Zeit? 

Mein Mann ist leidenschaftlicher Gamer. Er spielt Strategiespiele, reist virtuell durch die Zeitgeschichte, gestaltet eigene Welten. Ich bin weniger die Gamerin, dafür liebe ich Filme.  

Denken wir diesen Ansatz weiter: Wie viel lernst du, wenn du einen Film toll findest? Du weisst den Plot, du kennst den Cast, du diskutierst über alternative Handlungsstränge, über den Realitätsbezug, über die Rollenbesetzung, die Schauspieler privat und und und…  

 

Müssten wir also nicht Lernumgebungen schaffen, die wie Games und Kinofilme funktionieren?  

 

Das Problem ist, dass ein Film noch zu eindimensional ist. Der Film wird nur konsumiert. Ich muss aber auch produzieren können, Fragen stellen, in die Handlung eingreifen. Nehmen wir das Beispiel der Finanzkrise. Um zu verstehen, wie Finanzkrisen entstehen können und wie mit der letzten Krise umgegangen wurde, beleuchte ich mit meinen Studierenden die Krise ab 2007 bis heute. Im Moment müssen sie dafür viel lesen und sich Fernsehbeiträge anschauen. Am Ende sehen wir uns den genialen Hollywood-Blockbuster “The Big Short” an. Wenn sie den Film wirklich verstehen und darüber diskutieren können, habe ich mein Ziel erreicht. Dazu ist aber viel Aufbauarbeit von Grundlagenwissen nötig. Mit den aktuellen Methoden ist diese Aufbauarbeit leider etwas mühselig. Lernen soll aber Spass machen!  

 

Ich stelle mir eine virtuelle Lernumgebung vor, die ermöglicht in verschiedene Rollen einzutauchen. Ich kann z.B. die Schweizerische Nationalbank sein, eine Grossbank, der Bundesrat. Ich kann die Rolle verschiedener Akteure einnehmen. Meine Mitspieler genau so. Nun bin ich (noch) keine Gamerin, deshalb kann ich das wahrscheinlich nicht so gut beschreiben. Ausgehend von einer Ausgangssituation agieren die Spieler in ihrer Rolle und beobachten, welche Auswirkungen ihre Entscheidungen haben.  

Das alles sollte so aussehen wie in Games wie Game of Thrones oder Civilization. Möglicherweise tauchen wir in Zukunft sogar mit einer Virtual Reality Brille in diese Lernsituation ein. Warum nenne ich das Lernsituation und nicht Game? Ist nicht das ganze Leben irgendwie ein Spiel? Aber gut, jetzt schweife ich ab. 

 

Eigentlich ist alles da. Wir wissen, wie man einen Hollywood-Blockbuster dreht. Wir wissen, wie man ein erfolgreiches Game gestaltet. Es gibt bereits Games, die sich auf historische Tatsachen beziehen, bei denen man Volkswirtschaften gründen und gestalten kann, Handel treiben, Globalisierung oder Protektionismus vorantreiben und verschiedene Regierungssysteme implementiert. Es gibt sie bereits, die Virtual Reality Brille und Trainings z.B. für Rettungseinsätze von Sanitätern.  

Das einzige, was uns im Weg steht, ist die Ansicht, dass Lernen mühselig sein muss und keine Unterhaltung sein darf.

Lernen darf doch, ja es muss sogar, Spass machen! Es ist doch grossartig anzufangen die Welt zu verstehen.

 

Kinder haben diese natürliche Neugier. Sie wollen alles verstehen und durchdringen, sie brennen darauf sich auszuprobieren, die eigenen Grenzen auszuloten und zu verschieben, die Erwachsenen zu beobachten und zu hinterfragen, Gleichaltrige nachzuahmen und sich zu messen. Der Mensch ist ein Spieler. Lasst uns spielen! 

 

Ein PS für alle Eltern:  

An der LUGA in diesem Jahr hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben eine VR-Brille auf. Mir wurde schwindlig. Mein Körper ist es sich nicht gewohnt, in virtuelle Realitäten einzutauchen. Mein älterer Sohn war lange überfordert mit Filmen wie “Cars”. Der Schnitt ist sehr schnell, der Film ist voller Action. Meine jüngere Tochter ist von Filmen wie “The Lego Movie” überhaupt nicht überfordert. Sie ist 3,5 Jahre jünger. Sie ist mit schnelleren Schnitten aufgewachsen, da ihr älterer Bruder mit uns oder Freunden Filme guckt und sie seit Geburt halt auch einfach da ist und es mitkriegt. Livios Wahrnehmung musste sich langsam anpassen an schnellere Schnitte und mehr Bilder. Seine erste Lieblingssendung war “Micky Maus Wunderhaus”. Die Sendung ist für Kleinkinder perfekt und sehr lehrreich. Die Bilder wechseln langsam. Sein erster Kinohit war “Tinkabelle”, auch hier ist die Bilderfolge eher langsam.  

Worauf ich hinaus will, ist, dass sich die Wahrnehmung der Kinder durch Medienkonsum verändert. Sie gewöhnen sich. Unsere Kinder werden problemlos mit virtueller Realität umgehen können. Ihnen wird wahrscheinlich nicht mehr schwindlig werden wie mir.  

Persönlich finde ich es ein Fehler, dass wir uns mit Diskussionen über  Zeitbeschränkungen für Medienkonsum aufhalten. Natürlich sollen Kinder nicht tagelang Youtube-Videos ohne Sinn und Zweck konsumieren. Wir müssen sie begleiten und hinführen selbst zu Producern zu werden. Das fordert uns Eltern unwahrscheinlich heraus, aber es macht auch Spass! Hast du schon mal versucht, selbst ein Spielzeugfilmchen, wie es sie auf x-Youtube-Channels zu bestaunen gibt, zu drehen? Sog. Unboxing sinnvoll aufzuzeichnen ist gar nicht so einfach, wie es aussieht.  

Kinder konsumieren von Natur aus nicht nur. Wenn meine zweijährige Tochter ein Youtube-Video schaut, dann kommentiert sie. Sie vergleicht die gezeigten Spielsachen mit ihren, sie benennt die Farben, die Grössen, stellt Vergleiche mit ihren realen Spielsachen an. Die amerikanischen Nursery Rhymes, die manchmal hübscher, manchmal weniger hübsch animiert werden, singt sie freudig mit. Wir lernen ganz nebenbei eine andere Kultur und Sprache kennen. Wir erkennen Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede.  

Erziehungsdiskussionen um Medienkonsumzeiten sind für mich nicht zielführend. Entscheidend ist, was wir konsumieren und wie wir mitproduzieren. Mein Sohn dreht bereits seine eigenen “Youtube-Videos” (wir veröffentlichen diese nicht, aber besprechen, was interessante Inhalte sind (da sind wir uns nicht so einig 😉) und ich filme ihn oder er filmt sich selbst mit seinem Tablet. Er schaut sich die Videos an oder zeigt sie seinen Freunden. Die finden das immer ganz lustig, vor allem, wenn sie von Livio erwähnt werden).  

Anstatt über Regulation nachzudenken, sollten wir Eltern unsere Energien dazu aufwenden, selbst in die digitale Welt einzutauchen. Es kann sein, dass sich unsere Kinder fast nur noch in virtuellen Räumen bewegen werden. Sie werden darin lernen und arbeiten. Die reale Welt – sofern wir sie bis dahin nicht zerstören – wird vielleicht nur noch Erholungsraum sein. Wir dürfen keine Angst haben unsere Kinder in diese neue Welt zu begleiten. Es gibt kein Richtig oder Falsch. Es gibt nur ein Gemeinsam.  

 

Heb dier Sorg, Miriam

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