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Lebenshits

Wie Musik Identität stiftet und was das für unsere Kinder bedeutet

 

Sie sitzen im Stadion. Es ist Fussballweltmeisterschaft. Ihre Nationalmannschaft spielt. Mit Tausenden anderen Fans schreien Sie sich die Seele aus dem Leib «Allez, allez!». Es ist Sommer und die Sonne brennt. Trotzdem tragen Sie den warmen Fanschal um den Hals. Ihr Gesicht ist in den Landesfarben geschminkt, so dass jeder Schweisstropfen farbig auf ihr Shirt tropft. Es liegt der Geruch von Bier, Schweiss und Hotdogs in der Luft. Es ist laut. Dann kommen die Mannschaften aufs Spielfeld und reihen sich auf. Sie wissen, was nun folgt: Die Nationalhymnen. Es wird zuerst ganz still im Stadion. Sie stellen sich stramm hin, Ihre rechte Hand auf der Brust. Ihre Nationalhymne erklingt. Das halbe Stadion singt mit. Sie singen mit und kriegen Gänsehaut.

 

Kennen Sie diesen oder so ähnliche Momente? Was macht das mit Ihnen? Welche Rolle spielt die Musik?

Ich fühle mich in solchen Momenten unglaublich von der Musik getragen. Sie macht dieses Gefühl von Gemeinsamkeit, von gemeinsamer Identität erst möglich. Im Stadion während der Nationalhymne sind wir alle eins. Wir sind eine Nation. Wir fühlen uns verbunden. Ich könnte jeden Menschen umarmen. Es ist als würde die Musik uns auf einem fliegenden Teppich mitnehmen. Wir fliegen gemeinsam.

Gleichzeitig puscht die Musik. Sie lässt das Adrenalin durch die Adern strömen. Viele Sportler nutzen Musik, um sich vor einem Spiel oder einem Rennen zu motivieren. Trainieren Sie mit Musik? Dann wissen Sie, was ich meine.

Musik schafft Erinnerungen. Sie funktioniert wie ein Trigger (dt. Auslöser). Wenn wir die Nationalhymne hören, erinnern wir uns sofort an alles, was wir mit dieser Melodie verbinden und zwar auf allen Ebenen (Kopf, Herz, Hand): Heimat, Geborgenheit, Familie. Vielleicht sind auch negative Gefühle dabei. Bewusst oder unbewusst tauchen Erinnerungen auf und hüllen uns ein.

 

Was bedeutet das für unsere Kinder?

Eine bewusste Musikkultur in der Familie schafft Erinnerungen fürs Leben. Sie kennen das: Ihre Grossmutter hat mit Ihnen immer «Det äne am Bärgli» gesungen. Ein Leben lang erinnern Sie sich an sie, wenn Sie dieses Lied hören. Sie erinnern sich bei «Vo Lozärn gege Weggis zue» an die Familienausflüge im Sommer, an Schifffahrten und den Duft der Blumenwiesen. «Mier send metem Velo do» lässt Sie in Erinnerungen an die Fahrradausflüge mit Ihrem Vater denken.

Damit diese Erinnerungen entstehen können, müssen wir miteinander singen. Welche Lieder singen Sie mit Ihren Kindern? Welche singen Sie so häufig und zu den gleichen Gelegenheiten, dass Sie das Potenzial eines «Lebenshits» für Ihre Kinder haben?

 

Kürzlich waren wir ein Wochenende verreist. Als wir aus dem Hotel auscheckten und uns verabschiedeten, fing unser Sohn (6 Jahre alt) an zu singen: «Schön esch es gsi, scho esch’s verbi, jetzt gömer hei ond säged Bye bye!» Diesen kleinen Vers habe ich irgendwann mal angefangen zu singen und zwar immer, wenn wir an einem schönen Ort waren und uns verabschieden mussten. Ob das ein «Lebenshit» für ihn werden wird?

 

«Singen ist eine universelle und natürliche menschliche Fähigkeit und Handlung. Gemeinsames Liedersingen ist Ausdruck von Gefühlen und zugleich ein kulturelles Werkzeug oder Zeichensystem, mit welchem Gefühlszustände verändert und erzeugt werden. Das gemeinsame Singen beispielsweise der Nationalhymne beeinflusst den eigenen emotionalen Zustand in eine Richtung, die das individuelle Erleben in ein kollektives verwandelt.» (Stadler Elmer, S. 15).

 

Musik stiftet Identität. Sie beantwortet "Wer bin ich und wer möchte ich sein?" und "Wer sind wir und wer möchten wir sein?". "Musik begleitet Rituale und Feste und gibt dadurch Einblick in Traditionen, Moden und in Werte, die kollektiv geteilt werden." (Stadler Elmer, Kap. 2.1.5). Haben Sie schon mal darüber nachgedacht? Welches Lied kommt Ihnen dazu in den Sinn?

 

"We are the world, we are the children, we are the ones who make a brighter day, so let's start giving." Erinnern Sie sich? USA for Africa, 1985, das Lied geschrieben von Michael Jackson und Lionel Richie. Was waren unsere Träume 1985, wofür standen wir alle ein? Das Lied sollte helfen, Geld für die Hungersnot in Äthiopien zu sammeln. Die Single zählt zu den Meistverkauften aller Zeiten und verkaufte sich insgesamt über 200 Millionen Mal. Am 5. April 1985 spielten 5000 Radiostationen auf der ganzen Welt den Song gleichzeitig.

Lehnen Sie sich kurz zurück, hören Sie sich den Song an und denken Sie nach: Gibt es etwas anderes, das es schafft die Menschen dermassen zu bewegen? 

"Kunst und Musik als kulturelle Zeichensysteme, als Bestandteile von Ritualen und Praktiken verbinden die Menschen, koordinieren Handlungen und affektive Zustände und erfüllen das Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit und Identität. Die Teilnahme an der musikalischen Praxis ist in jedem Alter möglich. Affektregulation durch Musik erreicht Menschen voraussetzungslos. Die sensomotorischen und affektiven Erfahrungen werden verinnerlicht und prägen - als Habitus - die individuelle und kulturelle Identität in einer Art und Weise, die dem Bewusstsein kaum zugänglich ist." (Stadler Elmer, S. 26) 

 

Stadler Elmer meint weiter, dass die Gründe, warum wir Menschen Musik machen, sich unzureichend in Worte fassen lassen, weil sie sich letztlich dem sprachlichen Denken entziehen. Warum mache ich Musik? Warum mache ich Musik mit meinen Kindern? Darüber und über Affektregulation schreibe ich in den nächsten Blogbeiträgen.

 

Hebed euch Sorg, eui Miriam

 

Quellen:

Stefanie Stadler Elmer "Kind und Musik - Das Entwicklungspotenzial erkennen und verstehen", Springer Verlag Berlin Heidelberg 2015. Mehr HIER.

https://de.wikipedia.org/wiki/We_Are_the_World

PS: Sehen Sie selbst und fühlen Sie, wie sehr Musik bewegen kann:


PPS: Sehen Sie, wie die Nationalhymne unseren grossen Roger Federer zu Tränen rührt. Klar, es ist die Freude und der Stolz über seinen Sieg, die ihn emotional werden lassen. Aber es ist die Musik, die dazu führt, dass er seine Emotionen nicht mehr zurückhalten kann. 

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