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#09 Digitaler Unterricht = Agile Lernräume

Kürzlich begegnete ich auf dem Flur einem Lehrerkollegen und der grinste mich an und meinte «So viel Papier! Bist du nicht digitalisiert?». Verwundert ob seiner Frage rückte ich den Stapel Papier zurecht, mit dem ich voll bepackt Richtung Schulzimmer (Lernraum!) steuerte. Ich hatte nie behauptet, mein Lernraum funktioniere papierlos.

 

Die Frage regt mich an, darüber nachzudenken, was denn überhaupt ein digitalisierter oder digitaler (gibt’s da einen Unterschied?) Unterricht ist. Dazu muss ich dir zuerst verdeutlichen, wie mein Lernraum funktioniert.

 

Wie funktioniert mein Lernraum?

In meiner Ausbildung musste ich Lektionenplanungen auf Excel- oder Word-Tabellen gestalten und abgeben. Diese Tabellen enthielten die Vorbereitung für eine 45-Minuten-Lektion oder vielleicht auch mal für eine Doppellektion. Schön sorgfältig waren da 1- bis 10-minütige Lehr- und Lernschritte geplant, die dann genau so durchgeführt wurden. Der Stress und die Frustration waren vorprogrammiert und auf beiden Seiten: Die Lernenden waren frustriert, weil ich zu wenig auf ihre Anliegen und Fragen eingegangen war und ich war frustriert, weil ich die Zeit einfach nie einhalten konnte. Ein oder sogar mehrere Planungsschritte mussten regelmässig auf eine neue Lektion verschoben werden.

Wenn dann ein Plan mal funktionierte, war die Freude gross, die Planung wurde als gelungen in einen Ordner abgelegt, damit ich sie für ein anderes Mal wieder hervornehmen konnte. Lektionenplanung gelungen, Lernziel erreicht, Thema abgehakt.

Aaaaaabbber… haben wirklich alle das Thema begriffen? Kann ich in der nächsten Lektion auf das vermittelte Wissen aufbauen? Üblicherweise bekam ich die Antwort auf diese Frage erst bei der Prüfung, durch die das vermittelte Wissen in Fragen und Aufgaben verschiedener Schwierigkeitsgrade systematisch abgefragt wurde. Die Antwort kennst du: Hängen bleibt – je nach angewandter Methode – 5 bis 30% des vermittelten Lernstoffes. Die Lernenden müssen also selbst noch mal ran und das ist dann das allseits unbeliebte «auf die Prüfung lernen müssen».

 

Lieber Leser, liebe Leserin

Diese Art des Unterrichts war nie meins. Ich fühlte mich da immer in ein Korsett aus Zwang und Unflexibilität gedrückt. Ich war immer zu spät dran und meistens frustriert und habe die Planungen eigentlich immer spontan über den Haufen geworfen.

Heute bin ich so weit, mit gutem Gewissen keine Lektionenplanungen mehr zu machen. Klar, ohne Ziel und Plan geht es nicht ganz. Das Ziel ist das Erreichen einer Fachkompetenz wie es der moderne und aktuell gültige Rahmenlehrplan der Berufsmaturität vorsieht. Diese kann ich jederzeit mit überfachlichen Kompetenzen kombinieren. Der Plan definiert dann das Thema und das grobe Vorgehen, verzichtet aber bewusst auf einengende Minutenvorgaben.

Es ist wohl einfacher, wenn ich dir ein Beispiel zeige:

 

Angestrebte Fachkompetenzen:

  • «Die Bedürfnisbefriedigung als Triebfeder des Wirtschaftens erkennen und aus dem Bewusstsein der Beschränktheit der natürlichen Ressourcen die Notwendigkeit des Handelns nach ökonomischen und ökologischen Prinzipien einsehen.»
  • «Ich beschreibe die internationale Arbeitsteilung als Folge der Globalisierung und erkenne die Konsequenzen für die Schweiz.»

Dieses Jahr habe ich mich entschieden, diese Fachkompetenzen mit folgendem Angebot zu fördern (ob die Studierenden dann fähig sind, diese Fachkompetenz in einer Performanz im beruflichen und privaten Alltag zu zeigen, liegt ausserhalb meiner Beurteilungsfähigkeit):

 

Lektion 1 (45 Min.): Was ist Nachhaltigkeit?

  • Frage im Plenum besprechen, Notizen an Tafel
  • Video ansehen
  • Notizen an Tafel ergänzen, Theorieblatt zum Nachhaltigkeitsdreieck verteilen
  • Eigenes Konsumverhalten reflektieren: Wie nachhaltig leben Sie? -> Test durchführen 

Lektion 2 (45 Min.): Ist eine globalisierte Welt eine nachhaltigere Welt?

Stichworte: Globalisierung, Spezialisierung (= Arbeitsteilung), absoluter und komparativer Vorteil, Nachhaltigkeitsziele

 

Gruppenpuzzle gemäss Arbeitsblatt zu Kap.5:

  1. Schritt: Expertengruppen bilden, Definitionen zu Fachbegriffen finden
  2. Schritt: Austausch in neuen Gruppen mit je einem Experten, Definitionen klären
  3. Schritt: In der neuen Gruppe Aufgabe 2 lösen: Ist eine globalisierte Welt bzw. eine Welt, in der Freihandel herrscht, eine nachhaltigere Welt? Argumente Pro und Kontra finden. -> Sustainable Development Goals Index!

Lektion 3 (45 Min.): Was tun Schweizer Unternehmen, um die SDG (Sustainable Development Goals) zu erreichen?

 

A Journey through Sustainable Swiss Business | Global Compact Network Switzerland (25′ version)

(ab Minute 7:10 bis Ende, ca. 19 Min.)

 

Lektion 4 (45 Min.) – Reflexion Film

  • Evtl. zusätzlich Ausschnitte aus „Tomorrow – Die Welt ist voller Lösungen“ zeigen.
  • Rückblick auf Filmbeiträge:
  • Welche Erkenntnisse oder Lösungsideen haben Sie erlangt?
  • Was kann jeder Einzelne von uns für die Erreichung der Nachhaltigkeitsziele tun?
  • Lösungen sammeln und Katalog erstellen!

 

Du siehst, mein Plan ist voller «Evtl.» und zeitlich ist er flexibel. Bei einer Lektion weiss ich, dass die Zeit wahrscheinlich nicht ausreichen wird (im Beispiel Lektion 2), bei einer anderen habe ich «nur» Futter für 20 Minuten. Meine Planung ist nicht starr auf Lektionen ausgerichtet, sondern auf eine Lektionenreihe. Im Beispiel sind total 5 Lektionen für die geplanten 4 Lektionen reserviert. Dieses Vorgehen bedingt eine intensivere Nachbearbeitung, da ich festhalten muss, wie weit wir gekommen sind, welche Fragen sich die Lernenden auf ihrem Lernweg gestellt haben und wie ich diese sinnvoll verknüpfe und beantworte. Nach jeder Lektion bewerte ich auch die Methode, ob diese sinnvoll und effektiv war. Dabei ist es wichtig, auch die Lernenden selbst zu befragen, ob sie für die Erreichung der angestrebten Kompetenzen noch etwas benötigen.

 

Was ist digitaler Unterricht?

Da du nun gelesen hast, wie mein Lernraum funktioniert, leuchtet es dir bestimmt ein, dass die digitalen Möglichkeiten mir die Lernprozessbegleitung enorm vereinfachen und teilweise die Art und Weise, wie ich Lernprozesse begleite, erst ermöglichen.

Digitaler Unterricht bedeutet für mich nicht nur digitale Medien einzusetzen. Ich brauche ganz klassisch in so gut wie jeder Lektion die Wandtafel. Ich benutze den Beamer und den Laptop, klar, sonst könnte ich keine Lernvideos oder Filmbeiträge zeigen. Ich setze aber genau so Arbeitsblätter und ausgedruckte Skripte ein. Ich arbeite auch gerne an der Tafel mit Kärtchen und Magneten, um Zusammenhänge darzustellen. Die Tafelbilder werden fotografiert und online zur Verfügung gestellt. Trotzdem verlange ich von den Studierenden, dass sie ein Heft führen. Darin schreiben sie Fragen auf, notieren wichtige Erkenntnisse, notieren Reflexionsgedanken.

 

Die digitalen Hilfsmittel eröffnen mir mehr Möglichkeiten für die Anwendung einer agilen Didaktik. Ich kann Lernprozesse viel beweglicher gestalten. Ohne Digitalisierung müsste ich als Lehrperson ein wandelndes Lexikon sein, um agil unterrichten zu können. Mit den digitalen Hilfsmitteln ist das nicht nötig. Das Smartphone ist in meinem Lernraum erlaubt. Wenn wir einem Begriff begegnen, den wir nicht kennen, schlagen wir nach. Wenn wir ein Lernvideo auf Englisch oder Französisch anschauen und etwas übersetzen müssen, damit wir es verstehen, schlagen wir nach. Es gibt keine Ausrede «Jetzt habe ich das Englisch-Wörterbuch nicht dabei».

 

Ich kann den Studierenden kleine Rechercheaufträge geben und sie selbst – wie im Beispiel – Definitionen von Fachbegriffen suchen lassen. So können wir uns über verschiedene gefundene Definitionen austauschen und die Zutreffendste in unser digitales Fachvokabular (OneNote) übernehmen. Das ist vor der Digitalisierung höchstens in einer Bibliothek möglich gewesen!

Trotzdem brauche ich Papier in Form von Arbeitsblättern oder Fachtexten. Meine Studierenden sind nach wie vor nicht mit Laptops ausgerüstet, die wenigstens bringen ein Tablet mit. Smartphones sind einfach nicht gut geeignet, um schnell ein Mind Map zu erstellen, ein komplexes Modell zu zeichnen oder eigene reflektive Gedanken zu notieren. Zudem bin ich nach wie vor der festen Überzeugung, dass durch das Schreiben, durch den Prozess von Kopf zu Hand, sich Inhalte besser einprägen.

 

Mich wird man also weiterhin mit Papier beladen im Schulhaus antreffen. Gleichzeitig Laptop und ZGB/OR und ein Haufen Fachmagazine unter dem Arm. Vor 10 Jahren hatte ich noch an jeder Hand eine grosse Einkaufstasche vollgepackt mit Material, um agil handeln zu können. Heute ist dieses Material jederzeit online abrufbar. In diesem Sinne ist das für mich ein grosser Fortschritt!

Digitaler Unterricht will ich nicht. Das könnte Nürnberger-Trichter-Didaktik mit digitalen Lernmedien sein. Ich will einen agilen Lernraum schaffen, bei dem die Lernprozesse durch digitale Hilfsmittel unterstützt werden.

Wie siehst du das?

 

Ich bin gespannt auf deinen Kommentar!

Heb dier Sorg, Miriam

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