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#08 Die Krux mit den Noten

Als Musikerin mag ich ja Noten. Sie leiten mich an ein Musikstück zu spielen oder zu singen. Der Rhythmus ist klar, Takt, Tonart und Melodie. Noten befähigen mich. Mit Noten kann ich etwas spielen, das ich ohne nicht spielen könnte. Das ist eine gute Sache.

Es geht aber natürlich um die anderen Noten. Die Bewertungen. Die Skala von 1 bis 6, die dir sagt, ob du ungenügend, genügend, gut oder sehr gut gearbeitet hast. Dabei ist das Prädikat «Sehr gut» recht verpönt. Habe ich alles gute bis sehr gute Lernende oder Studierende, dann muss etwas mit unrechten Dingen zugehen. Dann sind die Prüfungen zu einfach. Dann ist die Bewertung zu lasch.

 

Musiknoten befähigen mich. Wäre das nicht auch irgendwie die Aufgabe von Bewertungsnoten?

 

Ich war in Mathematik eine Niete. Meine Noten waren immer zwischen 3 und allerhöchsten 4,5. Ich ging schon mit dem Gedanken an die Prüfung, dass ich wieder ungenügend sein würde. Dies hatte auch Auswirkungen auf mein Lernen: Ich verstand Mathematik sowieso nicht, also konnte ich auch die Aufgaben nicht lösen. Mein Selbstbewusstsein war total am Boden.

In der 6. Klasse des Gymnasiums kam das Thema Integral- und Differenzialrechnen dran. Plötzlich schrieb ich «Fünfeinhalber». Was war geschehen? Mein Mathelehrer war ratlos. Ich spürte genau, dass er dieser Sache nicht traute.

Mein heutiger Ehemann studierte damals bereits Wirtschaftsinformatik. Er war gut in Mathe (und Nein, wir sind nicht wegen der Nachhilfe zusammengekommen). Er erklärte mir, wozu man die Differenzial- und Integralrechnung benötigte, was man damit genau berechnen und was man mit den Resultaten anstellen konnte. WOZU! Zum ersten Mal in meiner Gymikarriere erklärte mir jemand, WOZU Mathe gut war! Es war für mich wie eine Erleuchtung. NIEMALS zuvor hatte ein Mathelehrer (und ich hatte mehrere am Gymi erlebt) erklärt, wozu, warum und wieso wir diese Rechnungen anstellten. «L’Art pour l’Art», so kam mir Mathe immer vor. Ich sah nie einen SINN darin. Und dann endlich! Da war sie, die Sinnhaftigkeit. Dank eines Studenten im ersten Semester!

 

Er hatte es geschafft und damit gezeigt, wie einfach Potenzialentfaltung gehen kann:

  • Ich muss den Sinn erkennen, in dem was ich lerne.
  • Ich muss Selbstvertrauen haben.

Beides hat Sandro in mir ausgelöst. Dadurch, dass ich endlich für mich richtig verstanden hatte, worum es eigentlich wirklich ging, konnte ich wieder Selbstvertrauen in meine Fähigkeiten aufbauen. Die damit erreichten guten Noten befähigten mich weiter dranzubleiben, denn sie motivierten mich. Noten sind also durchaus eine gute Sache. Note 5.0 für die Noten!

 

Aber: Wenn ich Lernprozesse begleite und einen grösseren Fokus auf die überfachlichen Kompetenzen lege (vgl. Blog #02), dabei eine Möglichkeit biete, dass die Lernenden und Studierenden in Flow geraten können, selbstgesteuert lernen… werden dann nicht automatisch die Noten «gut, besser, am besten»? Wie misst man Potenzialentfaltung?

 

Die letzten Präsentationen, die meine Studierenden hielten, waren erstaunlich gut. Sie hatten meine Erwartungen übertroffen. Das Engagement und die Motivation waren überdurchschnittlich. Als ich noch nach der Nürnberger-Trichter-Didaktik unterrichtete, waren die Noten bei durchschnittlichen Klassen bei 4.0 bis 4.5. Als vernünftiger Klassendurchschnitt gilt sowieso 4.5. Dann hast du als Lehrperson nichts falsch gemacht.

Seit ich aber die agile Didaktik (Christoph Arn) anzuwenden versuche, meine Studierenden viel mehr in überfachlichen Kompetenzen fördere, das Lernen so weit es geht freilasse, sind die Noten bei 5.0 bis 5.5. Sehr verdächtig.

 

Das Gefühl, ich müsse mich für diese Bewertungen rechtfertigen, kommt daher, dass ich sehr lange im «System Schule» unterwegs bin und es nicht anders kenne: Als Schülern, als Gymnasiastin, als Studentin wurde ich bewertet und als Dozentin und Lehrerin bewerte nun ich. Bewerten ist anspruchsvoll und der Teil des Jobs, den ich am wenigsten mag (sonst mag ich alles an meinem Job!).

 

Ich erinnere mich an einen Vortrag in der 1. Klasse des Gymnasiums in Ethik. Meine Gruppe erhielt die Note 5.75 mit der Begründung: «Eigentlich hätte ich eine 6.0 geben müssen, aber der Vortrag war zu perfekt!» Diese Begründung habe ich fast 25 Jahre nicht verstanden. Nun kann ich nachvollziehen, welche Überlegungen sich meine damalige Lehrerin wohl hatte anstellen müssen.

Sobald ich keine schriftliche Prüfung mit eindeutigen Lösungen durchführe, ist es einfach eine herausfordernde Aufgabe auf allen Ebenen faire Bewertungen vorzunehmen. Einfacher wäre es, beim «alten System» zu bleiben. Vermeintlich einfacher. Aber es geht nicht, ich kann nicht zurück. Hast du einmal Potenzialentfaltung erlebt, willst du keinen anderen Unterricht mehr! Es geht nicht, umzukehren ist unmöglich. Ich werde also wenn nötig kämpfen. Ich werde, wenn nötig, meine guten Noten verteidigen. Ich werde weiterhin die Lernprozesse meiner Studierenden dokumentieren und damit die Beweise für ihre Potenzialentfaltung sichern.

 

Wenn sich das Potenzial meiner Studierenden entfaltet, möchte ich sie einfach nur umarmen und ihnen gratulieren! Und ohne schlechtes Gewissen die verdiente Note setzen. Aber eben…

Wie gehst du mit Noten um? Was sind deine Richtlinien zur Notengebung?

 

Heb dier Sorg, Miriam

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