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#05 «Aber ich habe doch keine Zeit!»

Ein Satz, den ich von Lehrpersonen häufig höre. Lernprozessgestalter wie ich haben dieses Problem nicht (mehr). Warum?

Diese Sache mit der Zeit hängt damit zusammen, dass die Lehrpläne immer – wirklich immer – so vollgestopft sind mit Lehrinhalten, dass die Zeit, um diese Lehrinhalte zu lehren, tatsächlich niemals – wirklich niemals! – ausreicht. Aber um die Inhalte zu lernen, reicht die Zeit immer. Ja, wirklich immer!

 

Im klassischen Frontalunterricht vermittle ich den Studierenden die Stoffinhalte. Die Methode heisst Lehrerreferat und klar, dieses sollte nicht länger als 10 bis 20 Minuten dauern, danach hört eh niemand mehr zu. Ich mache also einen deduktiven Theorie-Einstieg, erkläre und erläutere. Die Studierenden hören zu. Ich beantworte Fragen. Dann müssen sie zuerst einmal die Theorie im Lehrbuch nochmals nachlesen, denn die meisten Studierenden sind kommunikative oder visuelle Lerntypen, mit auditiven habe ich es eher selten zu tun. Wenn die Theorie gelesen wurde, kommen die Übungen zum Thema, Schwierigkeitsgrad aufbauend. Gearbeitet wird in Einzel- oder Partnerarbeit. Am Ende werden die Übungen mit den Lösungen verglichen und die besonders Eifrigen schreiben die Lösungen des Lösungsbuches ab. Dann geht die Geschichte mit dem nächsten kleinen Lernschritt von vorne los.

Klingt irgendwie ineffizient, oder nicht?

Danach müsste auch noch ein Transfer in die Praxis stattfinden und eine Reflexion. Ganz zu schweigen von der Verknüpfung mit anderen Stoffinhalten und dem Erkennen der Komplexität der Realität, wenn denn das gelernte Modell überhaupt etwas mit der Realität zu tun hat. Und es ist ja überhaupt nicht gesagt, dass die Studierenden überhaupt bis hierhin kommen! Haben sie die Übungen sorgfältig gelöst? Haben sie verstanden, was ich ihnen erzählt und was sie gelesen haben? Oder sind sie abgeschweift und ihren eigenen Gedanken an den Feierabend nachgegangen? Sind sie nun fähig zum Transfer und zur Reflexion? Sind wir ehrlich: Nein! Klingt für mich also auch sehr ineffektiv.

 

Ineffizienz und Ineffektivität mögen wir Wirtschafter nicht so gern. Eigentlich mögen wir das überhaupt nicht. Und in einem solchen Unterricht hast du eines dann eben immer: Einen Mangel an Zeit. «Ich habe so viel Zeit investiert, es auf verschiedene Arten erklärt und jetzt? In der Prüfung sind 60% ungenügend!» Auch das habe ich von Lehrpersonen schon häufig gehört. Hallo, Nürnberger Trichter! Leider musst du nun abgeschafft werden! Die Nürnberger-Trichter-Didaktik funktioniert nicht. Was folgt ist Frustration auf beiden Seiten.

(Mehr zur Nürnberger Trichter-Didaktik HIER (übrigens ein tolles Online-Lexikon zu Psychologie und Pädagogik).)

 

Was könnte ich also anders machen?

Die Forderung von Christoph Schmitt «Lasst das Lernen frei!» bestätigt mir meine These (vgl. Blogbeitrag #03), dass intrinsisch motiviertes Lernen ermöglicht werden kann, wenn wir die Studierenden ein Thema finden lassen, für das sie brennen und ihnen Zeit für selbständiges, selbstgesteuertes Lernen zur Verfügung stellen (ein Beispiel dazu in Blogbeitrag #04).

 

Zwischenspiel

Christoph Schmitt am Weiterbildungskongress 2018 und seine Eindrücke: 

Ich muss also möglichst viele W’s freilassen:

  1. Was wird gelernt?
  2. Wann wird gelernt?
  3. Wo wird gelernt?
  4. Wie wird gelernt?
  5. Wie lange wird gelernt?

In meiner aktuellen Schule kann das so aussehen:

1. Was

Verschiedene Angebote machen:

Für Beginner: Starte mit 2 verschiedenen Themen zur Auswahl (z.B. Organisationslehre und Marketing). Die Studierenden wählen selbst, woran sie gerade arbeiten wollen.

Für Fortgeschrittene: Lernprozesse anhand aktueller Herausforderungen gestalten (Phänomene) und die zu erreichenden Kompetenzen zuordnen.

 

2. Wann

Lektionen gemäss Stundenplan

Zeitplan grosszügig gestalten: Für 2 Themen z.B. 4 Wochen einplanen (à 3 Lektionen pro Woche = 12 Lektionen für die Themen Organisationslehre und Marketing, dies entspricht ungefähr den Lehrplanvorgaben).

 

3. Wo

Klassenzimmer gemäss Stundenplan; Möglichkeiten an Gruppentischen in den Fluren des Schulhauses, in der Kantine oder auf der Dachterrasse zu arbeiten.

(In Absprache mit Lernprozessgestalter ist auch «Homeoffice» ausnahmsweise möglich. Ich erinnere daran, dass meine Studierenden meist das 18. Lebensjahr bereits erreicht haben.)

 

4. Wie

Selbständig: Die Studierenden wählen die Sozialform und die Methoden selbst.

Als Lernprozessgestalter muss ich Material zur Verfügung haben. Das ist aufwendig: Zeitungs- oder Fachartikel zum Thema, Videolinks, Fragenkarten, Modelle, spielähnliche Angebote (z.B. Quiz, das in einer Gruppe «gespielt» werden kann.), thematische Strukturen usw.

 

5. Wie lange

95 Minuten, die Pause teilen sich die Studierenden selbst ein.

 

Zum «Wie»:

Die heutigen digitalen Möglichkeiten vereinfachen mir eine agile Didaktik (Christoph Arn) sehr. Wenn ich die Studierenden selbst Fragen entwickeln lasse, weiss ich nicht, wohin uns das führt. Zum Beispiel sprechen wir über die Immobilienkrise der USA und ich rechne damit, dass wir bei der Eurokrise landen werden. Entsprechend bin ich vorbereitet. Nun führen uns diverse Fragen und Interessen aber zum Schweizerischen Immobilienmarkt und zum Inhalt von Hypothekarverträgen sowie zu den Bedingungen, unter denen man einen solchen in der Schweiz abschliessen kann. Am Ende sind wir beim Erbrecht. Wir sind im Flow, ich habe das Lernen frei gelassen und nicht gesagt: «Bei diesem Thema sind wir jetzt nicht.» Wie kann ich aber in einer solchen Situation spontan reagieren? Muss ich denn so viel wissen?

Nein. Hier kommt der grosse Vorteil der Digitalisierung ins Spiel! Auf OneDrive habe ich sämtliche Unterlagen jederzeit und überall verfügbar. Ich kann sie den Studierenden sofort online zur Verfügung stellen. Es gibt nur etwas, das ich beherrschen muss: Struktur ins Chaos bringen! Und wie geht das?

 

Ich wende mit meinen Studierenden folgende Methode an , ich nenne sie "Chaos-Struktur-Methode":

  • Schritt 1: Ziel definieren
  • Schritt 2: Frage oder Fragen formulieren
  • Schritt 3: Antworten bzw. Lösungen erarbeiten
  • Schritt 4: Lösungen evaluieren (Quellen bewerten, Umsetzbarkeit beurteilen, eigene Meinung formulieren u.a.).

Hier ein Beispiel zum Thema «Organisationslehre»:

  • Schritt 1

Ziel definieren: Die Organisation meines Arbeitgebers verstehen.

(Ich erinnere daran, ich unterrichte Berufsmaturandinnen und -maturanden, die gleichzeitig in einem Lehr- oder Arbeitsverhältnis mit einer Unternehmung stehen.)

  • Schritt 2

Frage oder Fragen formulieren: Haben wir ein Organigramm? Wenn Ja, wie sieht es aus? Wie kann ich es interpretieren? Gäbe es Verbesserungsmöglichkeiten? Wie sind unsere Abläufe organisiert?

  • Schritt 3

Antworten bzw. Lösungen erarbeiten:

  • Unterlagen des Arbeitgebers beschaffen (Studierende)
  • Thematische Strukturen, Unterlagen zu Organisationslehre bereitstellen (Lernprozessgestalter)
  • Infrastruktur für Recherche zur Verfügung stellen, also WLan, PCs oder BYOD (Schule).
  • Schritt 4

Lösungen evaluieren: Lösungen mit Klassenkameradinnen vergleichen: Wie sehen andere Organisationen aus?

 

Die Studierenden bewerten selbst, ob sie ihr Ziel erreicht haben:

  • Sind die Fragen beantwortet worden?
  • Welche theoretischen Grundlagen habe ich mir erarbeitet?
  • Sind diese auf dem neuesten Stand?
  • Wird sich in naher Zukunft die Organisation von Unternehmungen verändern (Stichwort: Arbeit 4.0)?

Schritt 4 kann in Einzelarbeit, aber auch in der Grossgruppe bearbeitet werden.

 

Als Lernprozessgestalterin bin ich mir während der «Chaos-Struktur»-Zeit immer bewusst, welche Fachkompetenz gemäss Lehrplan erreicht werden soll: «Die Notwendigkeit der betrieblichen Strukturierung erkennen sowie die Aufbau- und Ablauforganisation in einer Unternehmung an Beispielen interpretieren.»

 

Haben wir das mit der «Chaos-Struktur-Methode» erreicht? Meiner Erfahrung nach auf jeden Fall! Sogar noch viel mehr, denn wir haben viele überfachliche Kompetenzen gefördert, wie sie im Rahmenlehrplan zur Berufsmaturität vorgesehen sind (vgl. Blogbeitrag #01).

Beginnende Lernprozessgestalter können die Schritte 1 und 2 vorgeben. Wenn das Ziel und die Fragen auf die persönliche Praxis der Studierenden abgestimmt sind, so wie im Beispiel, werden sie motiviert sein, sich damit zu beschäftigen. Fortgeschrittene Lernprozessgestalter lassen auch die Schritte 1 und 2 frei. Der Prozess wird dadurch noch intensiver, individueller und ich muss noch agiler agieren. Aber nicht vergessen, wofür wir das tun: um die Freude am Lernen zu erleben, für nachhaltiges Lernen, wirkliches Verständnis und Auseinandersetzung mit der Welt, Flow, intrinsische Motivation. Wie geil! Ich liebe es. Und du?

 

Nun bin ich gespannt, was du davon hältst. Danke für deinen Kommentar.

Heb dier Sorg, Miriam

 

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