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#04 Potenzialentfaltung in der Schule ist möglich! Eine Anleitung zum Loslassen.

„Wir brauchen Gemeinschaften, deren Mitglieder einander einladen, ermutigen und inspirieren, über sich hinauszuwachsen.“ Gerhard Hüther 

 

Meine Idee kam spontan und ich fand sie gewagt. Meine Blockklasse, welche ich während 8 Wochen in 8 Lektionen pro Woche begleiten darf, war unglaublich interessiert an volkswirtschaftlichen Fragen. Unsere Gespräche führten uns zu einem eher pessimistischen Zukunftsszenario: Überbevölkerung, Nahrungsmittelknappheit, Ressourcenausbeutung, Klimawandel, das Ende der Menschheit. So wollte und konnte ich diese jungen Menschen nicht aus der Schule ins Studium entlassen! Für mich war schnell klar: Wir müssen uns «Tomorrow – Die Welt ist voller Lösungen» anschauen.

 

Aber ich wollte nicht nur einen Kinonachmittag veranstalten. Die Auseinandersetzung mit Lösungen sollte direkter und nachhaltiger wirken. So machte ich meinen 16 Studierenden einen Vorschlag: «Lasst uns ein Projekt machen. Ich hab’s noch nie gemacht, ich habe keine Ahnung, wie es rauskommt, wie viel Zeit wir brauchen, ob es gelingen wird. Habt ihr Lust?» Die Antwort lautete Ja. Und wir begaben uns auf eine gemeinsame (Lern-)Reise.

(Kleiner Reminder aus Blogbeitrag #03: Ich will die Studierenden in Flow bringen. Dazu benötige ich ein Thema, für das sie brennen und Zeit. Zeit habe ich mit der Blockklasse, da ich während 8 Wochen 3 Nachmittage pro Woche mit ihnen verbringe. Spannender ist also die Frage, wie ich ein Thema finde, für das sie brennen. Die Antwort: Ich finde es nicht. Die Studierenden finden es. Und jetzt weiter im Text…)

 

Der erste Schritt war, dass die Klasse selbständig vier Gruppen bildete, in dem sie sich für ein Themengebiet entschieden: Landwirtschaft, Energie, Wirtschaft, Demokratie, Bildung oder Mobilität.

Der zweite Schritt war, dass die Gruppe sich die Herausforderungen zu ihrem gewählten Thema überlegte. Ich habe mich bewusst für den Begriff «Herausforderungen» und nicht für «Probleme» entschieden.

Schritt 3 umfasste das Anschauen der Dokumentation der beiden französischen Filmemacher. Der Film sollte die Studierenden für eigene Lösungsansätze inspirieren.

In Schritt 4 wurden wir dann konkreter: Es sollte ein klares Ziel definiert (z.B. Wir wollen die CO2-Ausschüttung minimieren) und eine Frage formuliert werden (z.B. Wie können wir in unserem Alltag die CO2-Ausschüttung minimieren?). Dann sollte die Gruppe konkrete Lösungen suchen, formulieren, begründen und evaluieren.

 

Liebe Leserin, lieber Leser

Meine Studierenden machten das nicht.

Sie machten viel mehr!!! Hatte ich an EIN Ziel, EINE Frage und EINE umsetzbare Lösung angedacht, die die Gruppe in einer ca. 10-minütigen Präsentation der Klasse vorstellen sollte, bearbeitete jedes Gruppenmitglied JE ein Ziel, eine Frage und MEHRERE Lösungen zum gewählten Thema! Und zusätzlich fand eine Synthese der verschiedenen Unterthemen statt, ein Netzwerk an Handlungsanweisungen für eine bessere Zukunft. Für ihre eigene Zukunft. Die Präsentationen dauerten bis zu einer Stunde (!) plus anschliessender Diskussion im Plenum. Es wurde gemeinsam getestet (z.B. mein persönlicher ökologischer Fussabdruck), gedehnt (Übung für eine bewegte Pause), kritisch debattiert und sich auseinandergesetzt.

 

Ich war total platt. In total 11 Lektionen über 2 Wochen hat die Klasse einen ganzen KATALOG an alltagstauglichen Lösungen zu den grossen Herausforderungen der heutigen Zeit entwickelt! Wenn das keine Potenzialentfaltung ist, weiss ich auch nicht weiter.

Was ich hier erleben durfte, war selbständiges Lernen in Reinkultur. Ich habe total losgelassen. Ich habe die Verantwortung für den Lernprozess ganz allein den Studierenden überlassen. Ich habe die Möglichkeit geschaffen durch zur Verfügung stellen von Zeit, Raum und Material. Ich habe übers Loslassen nachgedacht, denn an einem Nachmittag verlangten die Studierenden die Möglichkeit für «Homeoffice». Ich habe es erlaubt. Sie haben sich selbst organisiert, mir die Zwischenresultate präsentiert, ihr weiteres Vorgehen dargelegt und sind verschwunden. Ich gebe zu, da habe ich kurz tief Luft geholt. Darf ich das überhaupt? Aber es leuchtet ein, dass die Studierenden für Recherchearbeiten lieber zuhause am eigenen PC arbeiten als an Handy oder Tablet. Und wenn beim Laptop das Wlan streikt, ist es sowieso vorbei. Loslassen. Tief durchatmen. Weitermachen.

 

Die Studierenden durften lernen, was sie wollten, wie sie wollten, wie lange sie wollten. Nur das wann war durch den Stundenplan vorgegeben. Aber diese Freiheiten und ein Thema, wofür sie brennen, reichten, damit sie intrinsisch motiviert in Flow geraten konnten. Und sie waren sowas von im Flow!

 

Liebe Lernprozessgestalterin, lieber Lernprozessgestalter

Wenn du mehr über die Projektarbeit «Die Welt ist voller Lösungen» inspiriert durch den Dokumentarfilm «Tomorrow» von Cyril Dion und Mélanie Laurent (2015) erfahren möchtest, melde dich doch einfach bei mir über irgendeinen Kanal.

Ich danke dir fürs Lesen und hoffe, ich konnte dich zum Loslassen inspirieren!

 

Heb dier Sorg, Miriam

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