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#03 Wie geht eigentlich intrinsisch motiviertes Lernen?

Mein bester Coach und Trainer ist mein 5jähriger Sohn. Ihn beim Lernen zu beobachten hat mir bisher mehr Einsichten erbracht als jedes Lehrbuch. Ein Beispiel für sein Lernen:

Die Fussballweltmeisterschaft 2018 in Russland hat ihn wie viele andere total begeistert. Seither gibt es (fast! Gottsei-dank…) kein anderes Thema mehr als Fussball. Seine Begeisterung ist sehr leidenschaftlich und umfasst eine Menge Aktivitäten neben dem eigentlichen Fussballspielen:

  • Spiele kommentieren (ausgedachte oder während «die Grösseren» in der Badi spielen)
  • Schiedsrichter spielen
  • Panini-Bilder sammeln, einkleben und tauschen (als das Heft voll war ein eigenes weiteres erstellen und gestalten)
  • Stadien zeichnen, basteln, mit Lego bauen, in Minecraft bauen
  • Tipp Kick spielen und ein eigenes Tipp Kick basteln
  • Spielfelder auf Papier, Karton oder mit Kreide auf der Terrasse einzeichnen
  • Goalie-Training
  • Länderflaggen richtig erkennen, vergleichen und selbst zeichnen und mit Bügelperlen gestalten
  • Umgang mit Zahlen: Resultate korrekt lesen, einfaches Addieren
  • Geografie: Länder im Weltatlas und auf dem Globus korrekt erkennen, den Kontinenten zuordnen, Grössenvergleiche anstellen
  • Alle Aktivitäten mit Freunden zusammen machen und über Fussball diskutieren («Ich hasse Schwede, die hend dSchwiiz usekickt!» «Mini Lieblingsmannschaft esch dSchwiiz ond FC Barcelona»… )
  • Fluchen wie die Grossen!
  • Hauptstädte und Städte und die erfolgreichsten Mannschaften kennenlernen
  • Unterschied WM und EM
  • Spieler erkennen, beim Namen nennen und ihre Herkunft benennen

Die Liste ist ellenlang! Ich finde es unglaublich, wie viel er gelernt hat, seit ihn diese Faszination für Fussball völlig einnimmt. Er ist total im Flow beim Spielen und merkt gar nicht bewusst, dass er die ganze Zeit lernt. Er lernt und lernt und interessiert sich und fragt und fordert und ist neugierig und fällt abends müde ins Bett.

Kennst du dieses Gefühl? Total im Flow sein und nicht aufhören wollen bis dir die Augen zufallen?

 

Ich kenne dieses Gefühl sehr gut. Aber ich hatte es nie – na gut, sagen wir, sehr selten – in der Schule erlebt. Total im Flow bin ich immer – wie jetzt gerade übrigens auch! -, wenn ich mir selbst etwas unbedingt beibringen will, wenn ich für ein Thema brenne, wenn ich ein klares Ziel vor Augen habe und dieses erreichen will. Wenn ich WILL. Dann arbeite ich bis tief in die Nacht hinein (ich bin ein Nachtmensch, morgens kannst du mich nur bedingt gebrauchen. Okay, seit ich Kinder habe, muss ich auch morgens funktionieren, man gewöhnt sich daran, aber jetzt schweife ich ab.) ANYWAY.

 

Fakt ist, dass dieses intrinsisch motivierte Lernen, das tief aus einem eigenen inneren Antrieb heraus erwächst und uns in einen Flow-Zustand versetzen kann, in dem wir über unsere Grenzen hinauswachsen und unglaublich leistungsfähig und aufnahmefähig sind, dieses Lernen findet in der Schule kaum statt. Der Grund ist einfach: 45 Minuten. Grüezi und Auf Wiedersehen. Jetzt sind es nur noch 40 Minuten.

Wir schreiben unseren Studierenden alles vor: Was, wann, wo, wie und wie lange sie lernen sollen. Kommst du so in «Flow»? Ich muss mich mal hinsetzen, mich sortieren und anfangen und nach etwa 20 bis 30 Minuten entscheidet sich, ob ich voll drin bin im Thema oder nicht. Da kann ich noch so einen tollen induktiven Unterrichtseinstieg machen! Bis die Studierenden im Flow sind, ist die Lektion vorbei! Es ist zum Schreien! Wer hat sich diesen Nonsens bitte ausgedacht?

 

Für mich gibt es also zwei wesentliche Bedingungen, um intrinsisch motiviertes Lernen bzw. Flow zu ermöglichen:

  • Ein Thema, für das die Studierenden brennen.
  • Zeit.

Ein kleiner Baustein für eine (Berufsmaturiäts-)Schule der Zukunft wäre also mal die Abschaffung der Lektionen. Ich stelle mir eine Schule als einen Ort vor, der wie mein Wohnzimmer eingerichtet ist. Es gibt Pflanzen, es ist gemütlich und man hat Lust sich hier aufzuhalten. Anders als bei mir im Wohnzimmer gibt es Arbeitsplätze für Gruppen, Einzelarbeitsplätze, PC-Arbeitsplätze, Kinoräume, Räume der Stille. Die Lernprozessgestalter bzw. die Fachexperten sind zu bestimmten Zeiten anwesend und begleiten als Lernchoaches die Studierenden. Diese teilen sich ihre Zeit selbst ein und arbeiten an fächerübergreifenden Themenprojekten. Sie arbeiten analog und digital vernetzt.

Es ist ja nicht so, dass diese Idee nicht schon irgendwo auf der Welt in einer Art umgesetzt wäre (z.B. in Finnland). Nur eben bei uns nicht. Und das obwohl die Schweiz den «Global Innovation Index» seit 7 Jahren anführt. In der Bildung sind wir nicht besonders innovativ. Oder was denkst du?

 

Jedes Mal, wenn ich in mein Schulhaus reingehe, stelle ich es mir ohne feste Wände und Türen zu den Klassenräumen vor. Es gibt Schiebetüren, die man schliessen kann, wenn im Klassenverband ein Theorie-Input einer Lernprozessgestalterin gemacht oder gemeinsam eine Dokumentation geschaut wird oder auch eine Prüfung geschrieben werden muss. Die Wände sind nicht grau, sondern farbig, es gibt Pflanzen oder bepflanzte Wände (auch eine Erfindung der Finnen!), die für frische Luft sorgen. Es ist einfach ein schöner Ort, wo Menschen zusammenkommen, um sich mit Phänomenen der Zeitgeschichte zu beschäftigen, sie zu verstehen versuchen und Lösungen erarbeiten.

Für mich hört sich das nach einem Paradies an. Flow ohne Ende! Kreativität, Mut und Pioniergeist entwickeln, kommunizieren und Ideen in die Welt tragen. Demokratisch. Richtig. Gut.

 

Wie sieht deine «Schule der Zukunft» aus? Was ist deine Vision einer neuen Schule?

Ich bin super gespannt von dir zu lesen!

Mehr zu Projekten, mit denen ich meine Studierenden in Flow zu bringen versuche (trotz 45 Minuten Lektionen), in Blogbeitrag #04.

 

Danke ond heb dier Sorg, Miriam

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