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Mensch sein und andere Tabus

Gestern war ich bei Manuela und Daniel*. Was für ein Paar! Manuela kommt aus dem hohen Norden unseres nördlichen Nachbarlandes. Da musste irgendwann der Satz kommen, dass nicht jeder Schweizer mit ihrer Offenheit und Direktheit umgehen kann. Und mir kam der Satz über die Lippen «Ja, das ist unsere typisch schweizerische Mentalität.»

Zuhause lese ich dann auf der Facebookseite einer befreundeten TCM-Therapeutin, dass es ein Tabu sei, über die weibliche Menstruation zu sprechen. Dann begegne ich einer Diskussion, dass es ein Tabu sei sich als Eltern nackt vor seinen Kindern zu zeigen. Leute, ehrlich?

 

Das Wort Tabu existiert in meinem Wortschatz nicht. Ich habe es nie gelernt. Schon als Kind durfte ich mithören, mitdenken, dabei sein. Als Jugendliche war ich das «Ein-Frau-Dr. Sommer-Team» meiner Klasse. Und heute? Meine Kinder folgen mir überall hin. Mein Sohn und meine Tochter baden zusammen und manchmal tun wir das auch zu Dritt. So lernen sie ganz nebenbei die menschliche Anatomie und die Unterschiede zwischen Mann und Frau kennen. Ich kann mir schwer vorstellen, mich im Badeanzug in die Badewanne zu setzen!

 

Was haben Menstruation und Nacktheit gemeinsam? Sie sind menschlich. Ich bin ein Mensch und ich liebe es, ein Mensch zu sein. Ich liebe es, dass ich mit meinem Körper atmen, singen und sprechen kann. Ich liebe es mit meiner Familie auf dem Bett herumzutollen, zu kitzeln, zu lachen, zu umarmen. Ich liebe es Mensch zu sein.

 

Tabus aber begrenzen das Menschsein. Ich soll über bestimmte menschliche Dinge nicht sprechen? Warum? Das hat mir noch nie eingeleuchtet.

 

Ich gebe aber zu: Mit meinen Brautpaaren spreche ich weder über die Menstruation noch über Nacktheit und auch nicht über Sex. Die Juristen zählen diese Punkte zur Intimsphäre. In diese dringe ich nicht ein. In ihre Privatsphäre aber müssen mich die Brautpaare lassen, nur so kann ich eine persönliche und authentische Zeremonie planen. So wie gestern Manuela und Daniel. Sie haben mir ihr Menschsein gezeigt und ich muss herzlich lachen und vor Rührung beinahe weinen, wenn ich daran denke. Manuela wollte einen Mann, mit dem sie streiten kann. Daniel relativiert typisch schweizerisch. Streiten ist wichtig. Es zeigt, dass man als Paar keine Tabus kennt. Man darf einfach sich selbst sein mit allem, was man hat oder auch nicht hat. Der andere liebt einen trotzdem – oder eben gerade deswegen.

 

Es ist meine tiefe Überzeugung, dass es in einer Familie keine Tabus geben darf. Aber: Wir respektieren unsere Intimsphäre. In diese dringen wir nur mit Erlaubnis und Respekt ein. Unsere Kinder sehen uns nackt. Wir sie schliesslich auch.

 

 

*In diesem Artikel geht es auch um Persönlichkeitsschutzrechte. Um diese von meinem Brautpaar zu schützen, habe ich die Namen geändert.

 

Für juristisch Interessierte:

Die Sphärentheorie im Persönlichkeitsschutzrecht (Art. 27 ff. Zivilgesetzbuch) wurde 1971 erstmals in einem Bundesgerichtsentscheid begründet. Aus BGE 97 II 97 Erwägung 3: «Die Geheim- oder Intimsphäre umfasst Tatsachen und Lebensvorgänge, die der Kenntnis aller anderen Leute entzogen sein sollen, mit Ausnahme jener Personen, denen diese Tatsachen besonders anvertraut wurden. Zur Privatsphäre gehört der übrige Bereich des Privatlebens; es sind ihr also alle jene Lebensäusserungen zuzurechnen, die der einzelne mit einem begrenzten, ihm relativ nahe verbundenen Personenkreis teilen will, so mit Angehörigen, Freunden und Bekannten, jedoch nur mit diesen. Was sich in diesem Kreis abspielt, ist zwar nicht geheim, da es von einer grösseren Anzahl von Personen wahrgenommen werden kann. Im Unterschied zum Geheimbereich handelt es sich jedoch um Lebenserscheinungen, die nicht dazu bestimmt sind, einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu werden, weil die betreffende Person für sich bleiben und in keiner Weise öffentlich bekannt werden will.»

 

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